Neue Ziele in der Hämophilie
Die Idee hinter dem Forschungsansatz des hemophilia free mind
Wie genau sich die persönliche Geschichte mit Hämophilie gestaltet und wie stark die Krankheit den Alltag bestimmt, das ist für jeden Betroffenen individuell unterschiedlich. Gleichzeitig ist das Leben mit Hämophilie oft von einem gemeinsamen Nenner geprägt: einer chronischen Erkrankung, die bereits im Kinderalter zum Vorschein kommt – und die bleibt.
Die Hämophilie, die durch einen Mangel an Blutgerinnungsfaktoren charakterisiert ist, führt zu unkontrollierbaren Blutungen, die Gelenkschmerzen und -schäden unterschiedlichen Ausmaßes verursachen können. Was häufig aus dem Fokus gerät: Nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Belastungen, die solche unvorhersehbaren Blutungen erzeugen, sind groß. Trotz stetiger Fortschritte in Therapie und Versorgung ist die mentale Last für viele Menschen mit Hämophilie noch immer an der Tagesordnung: Ängste vor spontanen Blutungen, Unsicherheiten über die Zukunft und die Herausforderung, ein aktives Leben zu gestalten, ohne sich in Gefahr zu bringen. Ein Zustand der Gelassenheit und der Freiheit im Kopf, Alltägliches tun und genießen zu können, ist für viele Menschen mit Hämophilie eher Sehnsucht als Realität.
Diese Lücke in der Hämophilie-Versorgung haben auch Evelien Krumb und Cedric Hermans erkannt und ihre Forschung entsprechend ausgerichtet: Unter dem inspirierenden Titel „Living with a ‚hemophilia-free mind‘ – The new ambition of hemophilia care?“ [14] suchen die beiden belgischen Forscher nach Lösungsansätzen, um Hämophilie-Patienten von der „psychischen Umklammerung“ der Krankheit zu befreien. Ihre Vision: Anstatt sich Fragen zu stellen wie „Was werde ich heute nicht tun können, was ich gerne tun würde?“ sollten Menschen mit Hämophilie z.B. sagen können „Ich muss mich nicht anders fühlen als Menschen, die nicht von Hämophilie betroffen sind“ oder „Ich muss keine Fähigkeiten und Strategien finden, um mit der Krankheit umzugehen“. Krumb und Hermans streben also nach einer Hämophilie-Versorgung, die neben der körperlichen auch die mentale Komponente miteinschließt und es Betroffenen ermöglicht, nicht ständig über ihre Erkrankung nachdenken zu müssen.
Doch wie lässt sich dieser Zustand des hemophilia free mind nun erreichen? Welche Ansätze existieren bereits, und an welchen Stellschrauben muss in der Forschung und Behandlung noch gedreht werden?
Im Prinzip umfasst das Konzept zwei Dimensionen: Einerseits den persönlichen Umgang mit der Erkrankung und die Bereitschaft, proaktiv die persönliche Versorgung in die Hand zu nehmen. Andererseits spielen aber auch innovative Therapieoptionen eine Schlüsselrolle, die in der Lage sind, den Bedarf an kontinuierlichen Faktorgaben zu reduzieren.
Die sechs zentralen Komponenten, um sich einem hemophilia free mind zu nähern, haben wir für Sie zusammengefasst:
- Ehrliche Selbstreflektion: Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um zu reflektieren: Wie stark fühlen Sie sich durch die Hämophilie in Ihrem Alltag eingeschränkt? Bestimmen regelmäßig Sorgen und Ängste Ihr Handeln und Ihre Entscheidungen? Es ist wichtig, solche Fragen ehrlich zu beantworten, um die nötige Energie zu entwickeln, etwas am Status Quo zu verändern. Vielleicht erkennen Sie, dass bestimmte Gedanken oder Befürchtungen Ihr Leben stärker beeinflussen als Sie hinnehmen möchten.
Der kostenlose Frei-sein-im-Kopf-Selbsttest unterstützt Sie dabei, eine strukturierte Bestandsaufnahme Ihres Gemütszustands rund um die mentale Last der Hämophilie zu machen. Probieren Sie es aus und nutzen Sie Ihr persönliches Testergebnis, um bestimmte Gegebenheiten auf den Prüfstand zu stellen.
- Gemeinschaft und Unterstützung: Der Weg hin zu einem hemophilia free mind ist eine Reise, die Sie nicht allein unternehmen müssen. Fordern Sie die Unterstützung Ihrer Familie, Ihre FreundInnen und der Hämophilie-Community aktiv ein – denn sie ist ein wichtiges Fundament, um den nötigen Mut zu fassen, Veränderungen anzugehen und die Hoffnung auf mehr Freiheit im Kopf zu verwirklichen.
- Kritisch sein und kritisch bleiben: In der Behandlung von Hämophilie gibt es keine „one-size-fits-all“-Lösung und natürlich obliegt die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapie immer Ihnen in enger Interaktion mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin.
Dennoch ist es wichtig, Behandlungs-Entscheidungen und -Routinen immer auch kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, wie gut diese zu Ihnen persönlich und Ihrem individuellen Lebensstil passt. Wenn Sie Zweifel oder Bedenken haben, sollten Sie nicht zögern, diese mit Ihrer behandelnden Ärztin oder Ihrem behandelnden Arzt zu besprechen.
- Shared Decision Making: Womit wir direkt zum nächsten Erfolgsfaktor kommen: Der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit dem Arzt oder der Ärztin Ihres Vertrauens. („Shared Decision Making“) Ihr(e) behandelnde(r) Arzt/Ärztin ist Ihr(e) wichtigste(r) Verbündete(r) auf dem Weg zu einem hemophilia free mind, weil er oder Sie Ihre individuelle Krankheitsgeschichte, und somit potenzielle Chancen und Risiken bestimmter Therapieoptionen am besten einordnen kann. Deshalb ist es ratsam, Bedenken, Wünsche und Fragen jederzeit gegenüber Ihrem/Ihrer Behandler(in) zu adressieren und gemeinsam mögliche Anpassungen Ihrer Therapie zu diskutieren. Übrigens: Ihr Ergebnis des Frei-Sein-im-Kopf-Selbsttests eignet sich auch hervorragend als Grundlage für Ihr nächstes Arztgespräch!
- Informiert sein: Wissen ist Macht – das gilt auch für die Vision des hemophilia free mind. Über Fakten, neuste Forschungsergebnisse und aktuelle Entwicklungen informiert zu sein, ist ein wesentlicher Schlüssel für einen eigenverantwortlichen Umgang mit der Hämophilie. Auch, um die richtigen Fragen an Ihren Arzt oder Ihre Ärztin zu stellen, ist ein fundiertes Verständnis für die Erkrankung und die diversen Behandlungsoptionen – ob altbewährt oder innovativ – eine wichtige Grundlage. Suchen Sie nach vertrauenswürdigen Quellen wie medizinischen Fachzeitschriften, Online-Ressourcen oder Plattformen zum Austausch mit Gleichgesinnten oder über den persönlichen Kontakt mit Patientenorganisationen, um stets up-to-date zu sein. Auch unsere Website kann eine hilfreiche Quelle sein, um zum Beispiel Ihr Wissen zu den wichtigsten Behandlungsoptionen aufzufrischen oder sich über neuartige Therapieansätze schlau zu machen.
Die Frei-Sein-im-Kopf-Website versteht sich als Informations-, Inspirations- und Motivationsquelle für alle Menschen mit Hämophilie, denen das Konzept des hemophilia free mind neue Hoffnung macht. Wir möchten Ressourcen bereitstellen, mit deren Hilfe Sie sich umfassend informieren und für eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin rüsten können. Gleichzeitig möchten wir Raum für Inspiration, Hoffnung und persönliches Wachstum bieten. Denn wir glauben fest an die Vision des hemophilia free mind und an die reelle Chance für viele Hämophilie-Patienten, sich dank moderner Behandlungsoptionen von der psychischen Umklammerung der Krankheit zu befreien.